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Papas Art zu lieben

Kim Ye-eun aus Seongnam in Korea

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Mein Vater war so oft auf Geschäftsreisen im Ausland, dass er mehr als die Hälfte des Jahres dort verbrachte. Meine um ein Jahr ältere Schwester und ich wurden ausschließlich von meiner Mutter großgezogen. Da ich oft von meinem Vater getrennt lebte, vergaß ich einmal sein Gesicht voll und ganz. Als meine Mutter wegen ihres täglichen Einkaufs kurzzeitig nicht zu Hause war, hielt ich meinen Vater für einen Wildfremden und wollte unter Tränen Hals über Kopf nach draußen wegrennen. Dieser Vorfall war für meinen Vater im wahrsten Sinne des Wortes ein großer Schock.

Als ich zwölf Jahre alt war, zog meine ganze Familie nach Vietnam, aber mein Vater stand stets unter Zeit- und Leistungsdruck, sodass sich sein geschäftiges Leben recht schwer mit dem Familienleben vereinbaren ließ. Außerdem war er wortkarg und schroff und schlief oft in den späten Vormittag hinein, selbst an seinen freien Tagen, was uns in der Tat erschwerte, eine gute Vater-Tochter-Beziehung aufzubauen.

„Liebt uns mein Vater vielleicht nicht?“

Bis zum Beginn meines Studiums konnte ich auch bei meinem besten Willen meinen Vater nicht verstehen. Aber als ich selbst in die Gesellschaft eintrat, den Hauptschauplatz des Lebens meines Vaters, begann ich, mich in seine Lage zu versetzen: Die Einsamkeit, die er ertragen musste, als er mutterseelenallein in einem fremden Land lebte, die schwere Verantwortung als Familienoberhaupt, die Schuldgefühle, weil er sehr wenig Zeit mit der Familie verbringen konnte. Doch das ganze Leben meines Vaters zeugte im Grunde von seiner tiefen Liebe zu seiner Familie. Dank meines Vaters, der sich nichts sehnlicher wünschte, als dass seine beiden Töchter in Gesundheit und mit allen guten Schulabschlüssen das Erwachsenenalter erreichten, konnte ich mich zu einer selbstständigen und verantwortungsbewussten Persönlichkeit entwickeln.

„Papa, wie hast du solch ein schweres und mühseliges Leben aushalten können? Wie einsam müsstest du da gewesen sein?“

„Nun scheinst du mich doch zu verstehen, denn du siehst erst im Erwachsenenalter alle Dinge aus einer anderen Perspektive als vorher! Ich bin dir so dankbar, dass du Verständnis für mich aufbringst.“

Mein Vater, der in aller Stille und ohne großes Aufheben Opfer für seine Familie gebracht hat, auch wenn es niemand bemerkte. Und zwar ist es zu spät, aber ich bedanke mich von Herzen bei ihm, dass mir jetzt schließlich bewusst geworden ist, wie sehr er uns liebt.