Ich halte die Hand meiner Großmutter fest

Lee Joo-mi aus Seosan in Südkorea

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Meine Großmutter ist 92 Jahre alt. Als ich in die Grundschule kam, wurden mein Bruder und ich von ihr aufgezogen. In meinen jungen und unreifen Augen schien es, als würde sie nur meinen Bruder bevorzugen, und statt ihr im Geschäft und im Haushalt zu helfen, rebellierte ich gegen sie. Da ich mich diskriminiert fühlte und meine Großmutter hasste, ging ich weit weg von zu Hause auf das Gymnasium. An dem Tag, an dem ich mit meinen gepackten Koffern von zu Hause wegging, brach meine Großmutter plötzlich in Tränen aus. Das war nicht die unerschütterliche, starke Großmutter, die ich bis dahin gesehen hatte. Auch mein Herz begann zu schmerzen.

Nach meiner Heirat wurde ich Mutter von zwei Kindern, und dann kam ich in meine Heimatstadt und lebte in der Nähe des Hauses meiner Großmutter. Obwohl ich sie von Zeit zu Zeit besuchte, kümmerte ich mich nur um ihre Gesundheit. Ich habe sie nicht mit Glaubenswahrheit vertraut gemacht. Das lag daran, dass ich mich noch daran erinnerte, dass meine Großmutter mich ein paar Mal mit einer Rute schlug und aus dem Haus warf, als sie herausfand, dass ich heimlich eine Kirche besuchte. Ich erwähnte nichts von der Kirche, weil ich sicher war, dass sie sich wegen ihres Aberglaubens aufregen würde.

So war es auch jedes Mal, wenn ich das Haus meiner Großmutter besuchte. Sie schaltete den Fernseher laut ein, weil sie nicht gut hören konnte, also rief ich laut nach ihr, wenn ich ihr Zimmer betrat. Eines Tages jedoch war kein Ton im Zimmer zu hören. Im Gegenteil, es war mucksmäuschenstill. Ich öffnete ganz vorsichtig und langsam die Tür und sah sie fernsehen, aber der Fernseher war stummgeschaltet.

„Warum hast du den Ton des Fernsehers abgestellt?“

Ich schrie ihr so laut ins Ohr, dass sie mich hören konnte.

„Wozu soll ich den Ton einschalten? Ich lese doch nur von den Lippen ab.“

In diesem Moment traten mir die Tränen in die Augen. Sie hat sieben Kinder allein großgezogen. Außerdem machte sie so viel durch, während sie ihre Enkelkinder aufzog, die nirgendwo anders hinkonnten. Es tat mir leid, dass meine Großmutter den letzten Teil ihres Lebens so einsam verbrachte.

Von diesem Tag an dachte ich oft an ihr Leben. Plötzlich fühlte ich mich schuldig, weil ich die Gunst meiner Großmutter nicht erwidert hatte, obwohl sie mich großgezogen hatte. Auch Gott gegenüber tat es mir leid. Vor dem Passafest besuchte ich sie mit einem Gefühl von Aufregung und Nervosität.

„Liebe Oma, komm und feiere mit mir das Passa! Das Leben auf dieser Erde ist nicht alles, sondern es gibt auch einen Himmel, in den wir zurückkehren werden. Da du hier ein schwieriges Leben geführt hast, hast du ohne Weiteres einen berechtigten Anspruch darauf, nach diesem Leben an einen guten Ort zu gehen.“

Als ich zu Ende gesprochen hatte, hielt ich die Hand meiner Großmutter ganz fest. Im Nachhinein wurde mir richtig klar, dass ich ihre Hand noch nie zuvor gehalten hatte. Ich konnte spüren, wie etwas in meinem Herzen brannte.

„Warum nicht?! Also tun wir’s doch einfach!“

Ihre Antwort war sicherlich ein Wunder. Bald darauf wurde sie als Kind Gottes wiedergeboren und hielt das Passafest und den Sabbat. Ich konnte nicht glauben, dass es Wirklichkeit war, als ich sah, wie meine Großmutter die Hände zusammenlegte und zu Gott betete wie ein kleines Kind. Ich habe Gott wirklich dafür gedankt, dass er mir gewährt hat, meiner Großmutter wahre kindliche Pietät zu zeigen.

Immer wenn ich sehe, wie meine Großmutter jeden Monat nach Zion kommt, um den Sabbat zu halten, ohne sich mit irgendwelchen Schwierigkeiten herauszureden, schäme ich mich für meinen früheren kleinen Glauben. Ich habe mir vorgenommen, mich um die Seelen in meiner Umgebung zu kümmern. Heute möchte ich doch sagen, was ich lange Zeit tief in meinem Herzen vergraben habe: „Meine liebe Großmutter, es tut mir so leid! Was immer ich dir angetan habe, was immer ich zu dir gesagt und dich damit verletzt habe, es tut mir unglaublich leid. Danke, dass du mich großgezogen hast.“